Der CLUB des SCHWEIZER FERNSEHENS vom 19. August hat es wieder einmal deutlich gemacht. In der Person von alt-Presseratspräsident und als-Chefredaktor Peter Studer. Der Mann, der schon längst zur Fraktion der Juristen gehört, die auch ohne detaillierte Dossier-Kenntnis einen Urteilsspruch wagen und damit regelmässig gegen eine juristische Haupttugend verstösst, hat sich bereits am Montag festgelegt. In einem Interview mit dem TAGES-ANZEIGER erläutert er, warum die Geschichte des SONNTAGS-ZEITUNG aus seiner Sicht die Kriterien für eine Publikation erfüllt, sprich: von öffentlicher Relevanz ist.
Blöd nur: schon am selben Tag bricht das Hauptargument seiner Expertise weg: Der mutmassliche Amtsmissbrauch fällt nach übereinstimmenden Aussagen der Polizeikorps des Kantons Bern und des Kantons Aargau weg: Müller hätte als Stadtammann von Baden zwar einen Amtsmissbrauch begehen können, wenn er sein eigenes Korps, die Stadtpolizei Baden, in dem Fall instrumentalisiert hätte. Das Problem nur: Er hatte nicht. Eine einfache Nachfrage bei den Polizei-Korps hat diesen Sachverhalt geklärt, nachzulesen etwa auf NZZ online. Oder in dem bemerkenswerten Beitrag von 10vor10 des SCHWEIZER FERNSEHENS.
Ein offener Punkt bleibt allerdings: Die Frau, mit der Gery Müller gechattet und Nackt-Bilder ausgetauscht hat, stellt die Sachlage auch im BLICK vom 20. August völlig anders dar. Hat Müller deshalb erst am Dienstag informiert, weil er den Montag dazu brauchte, um mit den Polizeikorps die Geschichte abzusprechen? Wenn die Version der Frau stimmen würde, hätte nämlich auch die Polizei, insbesondere diejenige in Baden, ein Problem und müsste sich ihrerseits Amtsanmassung als Vorwurf gefallen lassen. Begründen die unterschiedlichen Darstellungen ein öffentliches Interesse? Nein. Warum nicht?
Es darf nicht reichen. Wäre es nämlich so, könnte ein jeder Zeitgenosse mit obskuren Beschuldigungen gegen eine prominente Persönlichkeit skandalisierende Berichte in den Medien auslösen, die eine solche Person des öffentlichen Lebens im besten Falle diskreditieren, im schlechtesten völlig zu Fall bringen könnte. Das darf eine Gesellschaft niemals zulassen und muss deshalb darauf bestehen, dass Medien ihre Verantwortung wahrnehmen. Zunächst hätte ein Journalist beispielsweise die Pflicht der Quellenkritik: er müsste sich also kritisch fragen, wie vertrauenswürdig seine Quellen sind. Und welche Motive sie haben könnte, eine Situation so darzustellen, wie sie es tut. Für die Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit kann zum Beispiel herangezogen werden, ob sich eine Quelle selbst in Widersprüche verstrickt. Die betroffene Frau wird in diesem Falle einmal damit zitiert, sie habe von sich nie Nacktbilder an Müller geschickt, an anderen Orten wiederum räumt sie ein, auf Druck von Müller auch von sich Bilder geschickt zu haben. Auch Protokolle z.B. der Polizeibehörden könnten ein Puzzleteil zu diesem Mosaik sein. Natürlich bedeuten solche Abklärungen Arbeit, damit Aufwand und Kosten für einen Medienbetrieb. Unserer Überzeugung nach darf ein öffentliches Interesse an dieser Kontroverse erst bejaht werden, wenn der Journalist diese Arbeit geleistet hat und sich nach bestem Wissen und Gewissen keine Klarheit ausmachen lässt.
Aber zurück zu Medienrechtler Studer. Er argumentiert damit, Müller sei eine Figur des öffentlichen Interesses und müsse sich als gewählter Politiker mehr gefallen lassen als einer anderer. Dieses Argument ist nicht nur gerichtsnotorisch, sondern auch in der Lehre akzeptiert. Allerdings mit der Einschränkung, dass für den mithin allerpersönlichsten Bereich, nämlich die Sexualität, auch für eine Person der Zeitgeschichte die Privatspähre zu achten sei.
Was bleibt noch als Rechtfertigung für eine Publikation? Chefredaktor Müller (und in der Folge auch Studer) argumentieren, Müller habe die Nackt-Selfies während seiner Arbeitszeit gemacht. Dieses Argument ist einigermassen lächerlich. Es mag hinhalten für Personen, die ein- und ausstempeln und Ihre Arbeitszeit auf die Minute genau abrechnen. Ein Mann in einer hohen Kaderfunktion wie ein Stadtammann wird wohl soviel mehr als die gesetzliche Höchstarbeitszeit für sein Amt unterwegs sein, dass dieses Argumentation nachgerade lächerlich wirkt.
Oder: Die Bilder seien im Amtshaus entstanden. Dieses Argument lässt sich schlecht wiederlegen, weil es gar keines ist. Wollen die Vertreter dieser Argumentationskette aussagen, dass alles, was vielleicht moralisch fragwürdig ist, dann in der Öffentlichkeit breitgetreten werden darf, wenn es in Amtsräumen stattfindet? Verfügen Amtsräume über eine besondere Weihe, die verletzt werden kann? Reicht es für ein öffentliches Interesse, wenn in diesen Räumen «etwas passiert, was dort normalerweise nicht passiert», wie sich Studer im Club zu rechtfertigen versuchte? – Zugegebenermassen ein Argument, – seit dem Zeitalter der Aufklärung dürfte es allerdings nur noch für die einige äusserst Konservative von Belang sein.
Bleibt ein Vorwurf, den allerdings weder CR Müller noch Studer explizit benennen: Der nämlich, Müller könnte sich mit den Bildern erpressbar gemacht haben. Dieses Argument wird wohl deshalb nicht bemüht, weil es seinerzeit in der sog. Borer-Affäre (es ging um eine angebliche aussereheliche Beziehung des Schweizer Botschafters in Deutschland) mit dem Gegenargument ausgehebelt wurde, in der heutigen Zeit würde eine Affäre nicht mehr ausreichen, um einen Erpressungsgrund zu konstituieren. Gilt das Argument?
Aus meiner Sicht ist es das einzige Argument, das letzten Endes übrigbleibt. Die ganze Affäre hat letztlich nur dann eine Relevanz, wenn es auf irgend‘ eine Weise die Amtsführung von Gery Müller negativ beeinflusst. Und es ist die Vermutung durchaus nicht von der Hand zu weisen, dass ein Politiker sich zu Handlungen hinreissen lassen könnte, wenn auf dem Spiel steht, dass Bilder seiner primären Geschlechtsorgane den Medien zugespielt werden und von diesen möglicherweise gar – mehr oder weniger verpixelt – publiziert werden. Dieses Druckmittel für eine Erpressung unterscheidet sich qualitativ auch erheblich von der reinen Aussicht (in der Borer-Affäre), dass eine aussereheliche Ehe ohne entsprechendes Bildmaterial als Aussage der Gespielin in den Medien abgehandelt werden könnte.
Fazit: Die ins Feld geführte Argumentation dafür, warum eine Publikation durch öffentliches Interesse begründet ist, weist bislang erhebliche Mängel auf . Die Rechtfertigungsversuche von Chefredaktor Müller sind wenig stichhaltig und zeigen, dass im Vorfeld der Publikation mehr der Scoop (und die damit erhoffte Auflage und Beachtung in der Öffentlichkeit) im Raum standen als die echte Überzeugung, dass hier Vorfälle von einer Tragweite zu berichten sind, über welche der geneigte Wähler, die Wählerin, unbedingt ins Bild zu setzen seien. Medienrechtler Studer hat sich, ohne vertiefte Kenntnisse und/oder Recherchen, festgelegt und muss jetzt, um sein Gesicht nicht zu verlieren, an seiner oben bereits widerlegten Argumentation festhalten. Die eigentliche Frage aber ist bislang in der öffentlichen Diskussion kaum aufgegriffen worden.