Schluss mit Kritik-Verboten
Nein, Dresscode-Kritik ist nicht per se sexistisch.
Und wieder mal gehen die Wogen hoch in Deutschland. Der TikToker @news_aktuell_ironisch hat die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock für ihren Dresscode kritisiert, als sie im April im italienischen Capri ankam. Sie stieg dort mit Jogginghosen, Turnschuhen, einem langen Mantel und einer Baseball-Cap aus dem Schiff, wo sie von einem Marine-Detachement empfangen wurde.
Der Tiktoker kritisiert, man könne doch nicht in Turnschuhen aus dem Schiff steigen, wenn man mit militärischen Ehren empfangen werde.
Das führt nun zu einer Kontroverse. Die Kritik sei «sexistisch», behauptet die linke Feministin #louisadellert in einer Entgegnung. Die Frau würde für ihr Äusseres kritisiert, was bei Männern nicht passiere.
Was ist davon zu halten?
Wir meinen: Es kommt darauf an.
Fragen wir zuerst danach, was Sexismus ist. Der Definitionen gibt es da viele. Wir legen eine einfache zugrunde: Sexistisch ist, wer einer Person alleine aufgrund des biologischen Geschlechts irgendwelche Merkmale zuweist, die mit der Geschlechtsfrage nichts zu tun haben. So wäre es zweifellos sexistisch, Baerbock die Eignung zur Aussenministerin abzusprechen, «weil sie das als Frau nicht kann.» Eine solche Aussage geht natürlich gar nicht.
Und die Äusserlichkeiten?
Die linke Influencerin Louisa Dellert kritisiert auf TikTok, dass Frauen immer noch häufig aufgrund ihres Aussehens Kompetenz abgesprochen werde – und Männer davon viel weniger betroffen seien.
Nun, wie so oft liegt der Teufel im Detail.
Physiognomik: Geht gar nicht
Die Physiognomik behauptet, von äusserlichen Merkmalen – beispielsweise einer hohen Stirn oder einer Hakennase – auf seelische und charakterliche Eigenschaften schliessen zu können. So wollte man beispielsweise potentielle Verbrecher bereits anhand Ihres Äusseren identifizieren. Oder anhand von Gesichtszügen bestimmen können, ob eine Person homosexuell ist.
Die Forschungsrichtung hat eine lange Geschichte, schon Aristoteles hatte sich zu solchen Fragen geäussert. Seit die Nationalsozialisten Menschen aufgrund von Schädelformen in höher und wenig hoch entwickelte Menschen einteilten, ist die Physiognomik unter seriösen Psychologen aber ein Unding und wird als Irrlehre angesehen. Auch wenn es immer wieder Versuche gibt, sie wiederzubeleben und bis heute Kurse darin abgehalten werden oder Autorinnen wie Tatjana Strobel Bücher darüber schreiben.
Wir sagen klar: einer Person aufgrund eines Gesichtszuges charakterliche oder intellektuelle Eigenschaften zuzuweisen ist nicht seriös. Und eine Person für ihre Gesichtszüge oder körperlichen Merkmale zu kritisieren, ist grundsätzlich ein No Go.
Die Sache mit der Körperfülle
Darf man jemanden für seine Körperfülle kritisieren? Jetzt wird es schon schwieriger. Adipositas, also Fettleibigkeit, gilt als Krankheit. Ist ein fettleibiger Mensch krank oder einfach disziplinlos? Dürfen Menschen für Krankheiten kritisiert werden?
Wir empfinden das als Gratwanderung. In der Geschichte zeichneten sich auch grosse politische Figuren durchaus durch eine erhebliche Körperfülle aus – und leisteten viel für die Gesellschaft. Es sei nur beispielsweise an Winston Churchill erinnert, der nicht nur dem Essen, sondern auch dem Alkohol nicht abgeneigt war. Niemand wäre auf die Idee gekommen, ihn für das Übergewicht zu kritisieren (ausser seine Frau vielleicht). Die Frage ist vielleicht deshalb vielmehr, ob es nicht einfach stillos ist, sich über eine übergewichtige Person lustig zu machen. Und eine solche Kritik deshalb mindestens genau so viel über den Kritiker aussagt als über die kritisierte Person, die mit grosser Sicherheit ja selbst unter ihrem Übergewicht leidet.
Aber auch hier gilt es wieder, auf die Feinheiten zu achten. Wenn eine Politikerin wie die Grüne Ricarda Lang anderen Ernährungstipp geben wollte, dann erscheint eine Kritik mit Verweis auf ihre eigene Leibesfülle durchaus berechtigt. Da geht es nicht um Sexismus, sondern schlicht um Glaubwürdigkeit. Wer offensichtlich Mühe bekundet, sich selbst richtig zu ernähren, sollte nicht andere darin unterrichten wollen. Das wäre, wie wenn ein Fahrlehrer ohne Führerschein Lastwagenchauffeure ausbilden wollte.
Wenn dieselbe Ricarda Lang aber einen politischen Vorstoss unternimmt, um die Lebensmittelindustrie auf gesündere Produkte zu verpflichten, dann ist daran wiederum nichts auszusetzen. Im Gegenteil: Ihre eigene Erfahrung legitimiert sie sogar dazu, den Finger auf diesen Punkt zu legen und zu zeigen, welche negativen Auswirkungen gesundheitsschädliche Rezepturen in der Lebensmittelindustrie haben können.
Professioneller Dresscode darf angemahnt werden
Eine andere Sache ist es mit der Kleidung. Die Kritik an Baerbocks Turn-Outfit bei der Ankunft auf Capri ist natürlich unter keinem Titel sexistisch. Kleidung ist ja kein Persönlichkeitsmerkmal, auf das man keinen Einfluss hat. Und Baerbock hat ja bei anderer Gelegenheit durchaus bewiesen, dass sie sich korrekt zu kleiden weiss. In der vorliegenden Situation handelt es sich schlicht um einen Protokollfehler.
Die Kritik an ihrem Turnzeug ist also eine rein professionelle und sehr wohl berechtigte. Auch einem männlichen Aussenminister, der im Jogginganzug aus dem Schiff tritt, wenn er dort von einem Marine-Detachement empfangen wird, wäre derselbe Vorwurf zu machen.
Denn eine solche Kleidung zeugt schlicht von mangelndem Respekt. Gerade eine Aussenministerin sollte als Chef-Diplomatin wissen, dass man Respekt auch über den Desscode zum Ausdruck bringt. Die Marine-Soldaten begegnen ihr ja auch nicht im Sporttenü, sondern in der korrekten Uniform.
Dass man auch als Aussenminister der Grünen Partei stets korrekt gekleidet sein kann, gibt die deutsche Geschichte übrigens durchaus her. Es sei nur an Joschka Fischer erinnert. Der erste grüne Aussenminister hatte als Abgeordneter im Bundestag noch Schlagzeilen gemacht, weil er sich erfrecht hatte, in weissen Turnschuhen im Parlament aufzutreten. Später, als Aussenminister, machte er im feinen Tuch, meist dem Dreiteiler, immer eine gute Figur und hatte sich damit auch bei Gesprächspartnern Respekt verschafft, die politisch das Heu nicht mit ihm teilten.
Alles Sexismus oder was?
Von Kritikerinnen wie Louisa Dellert wird gerne behauptet, Frauen seien viel häufiger von Kritik an ihrem Körper betroffen und das sei sexistisch. Wir meinen: Hier spielt wohl die kognitive Dissonanz. Sprich: Die Kritikerinnen nehmen nur Kritik am Äusseren von Frauen wahr. Derweil werden Männer genauso kritisiert und öffentlich diskutiert. Berlusconis plastische Eingriffe und seine auch im hohen Alter noch schwarzen Haare waren regelmässig Gegenstand von Debatten, genau so machen sich viele über die Frisur des neuen argentinischen Präsidenten Javier Milei lustig («Was ist sein Coiffeur von Beruf»?) und auch Helmut Kohls Leibesfülle war seinerzeit Gegenstand von Sprüchen («Die Walz‘ aus der Pfalz»). Auch der unpassende Auftritt des russischen Diktators Vladimir Putin mit nacktem Oberkörper auf einem Pferd wurde weltweit verspottet.
Fazit: Die Kritik an unpassendem Kleidungsstil, unpassender Inszenierung oder auch körperlichen Attributen hat sich längst emanizipiert, Männer sind genau so davon betroffen wie Frauen.
@news_aktuell_ironisch #annalenabaerbock trifft beim #g7 Gipfel auf #capri ♬ Originalton - News aktuell
@louisadellert Hat jetzt jeder verstanden, oder? #politik #annalenabaerbock #frausein #feminismus ♬ Solas X Interstellar - Gabriel Albuquerqüe
Darf man Kritik üben an nicht angemessener Kleidung von Exekutiv-Politikern? Joschka Fischer, deutscher Aussenminister im Kabinett von Gerhard Schröder von 1998 bis 2005, zeigt, wie es geht. Der frühere Abgeordnetenschreck verzichtete als Chefdiplomat auf Turnschuhe und Baseball-Caps – zumindest bei offiziellen Terminen. Sein Desscode galt als stilbildend, Fischer in Style-Magazinen als Vorbild gefeiert.
Ricarda Langs Übergewicht ist immer wieder Gegenstand von spitzen Bemerkungen der politischen Gegnerschaft. Wir erachten Kritik an der Leibesfülle von Personen des öffentlichen Lebens als stillos – sie wirft auch ein schlechtes Licht auf die Kritiker.
Gleichzeitig gilt aber auch: Übergewicht wird in verschiedenen gesellschaftlichen Kreisen jegwelcher Parteifarbe als Mangel an Disziplin wahrgenommen und ist damit sicherlich nicht hilfreich für eine Karriere. In der Privatwirschaft sind übergewichtige Topkader heute eine Seltenheit geworden. Sowohl aus gesundheitlichen wie auch aus Gründen des Reputationsmanagements ist deshalb eine Gewichtskontrolle empfehlenswert.
Bildnachweis:
(1) TikTok
(2) Dr. Frank Gaeth, über Wikipedia
(3) Bundesbildstelle des Presse- & Informationsamtes der deutschen Bundesregierung